Jedes Jahr um diese Zeit fragen wir uns, was das neue Jahr wohl bringen wird. Ob Gutes, Schlechtes oder beides und in welchem Verhältnis sie zueinanderstehen werden und was letztendlich überwiegen wird?
Dieses Jahr war wohl für alle ein Jahr der besonderen Art. Seuchen, in diesem Ausmaß wie Corona, kannten wir nur aus den Geschichtsbüchern, aber glücklicherweise macht man heute uns dafür nicht verantwortlich, wie es bei der Pest im Mittelalter noch üblich war.
Ich weiß nicht ob das nächste Jahr besser werden wird oder gar schlimmer und ich befinde mich auch nicht in der Position, irgendwelche Prognosen abzugeben. Darum kann ich lediglich vom hier und jetzt schreiben. Corona hat mich persönlich nicht so belastet, wie es bei den meisten Menschen in diesem Land war. Meine Arbeit in der Klinik ging weiter wie bisher, wenn auch unter etwas modifizierten Umständen. Auch den „Lockdown“ fand ich nicht so schlimm, denn ich hatte auf einmal viel mehr Zeit für mich und meine Tochter. Die gemeinsame Zeit zu Hause, als sie nicht zur Schule ging, hat uns noch nähergebracht.
Große Diskussionen gab es allerdings in der Gemeinde. Dem Vorstand wurde vorgeworfen diktatorisch zu handeln, da er beschlossen hatte, die Synagoge zu schließen und auf die Gottesdienste dort zu verzichten. Ich selbst brauche keine Institution, um meinen jüdischen Glauben auszuleben, aber nicht jedem ging das so und ich reagierte mit Unverständnis, wie man so stur debattieren kann, über Dinge, die nun mal nicht zu ändern sind, die keiner zu verantworten hat und Entscheidungen in Frage zu stellen, die der Vorstand der Gemeinde lediglich zum Wohl der Gemeindemitglieder traf. Die Shabbatot verbrachte ich zu Hause, mit der Familie und Freunden und sie waren sehr schön, feierlich und wir freuten uns, dennoch jüdisches Leben hier in Deutschland zu erfahren.
Nun stehen die großen Feiertage vor der Tür und auf einmal verspüre ich, wie sich mir etwas entzieht, was unabdingbar zu meinem Leben gehört. Die Teilnehmerzahl für die Gottesdienste ist beschränkt und das erste Mal werde ich weder Erev Rosh HaShana noch Jom Kippur in der Synagoge sein. Das erste Mal werde ich Jom Kippur alleine verbringen und es ist nun mal der Tag im jüdischen Jahr, in welchem wir stärker als sonst, die Kraft einer Gemeinschaft verspüren. An diesem Tag teilen alle dieselben Gedanken und fasten gemeinsam. Jedes Jahr freue ich mich auf das Kol Nidrej, weil es mich bis ins Innerste berührt. Ja, ich kann alleine zu Hause beten, aber es ist nicht dasselbe. Ich möchte genau an diesen Tagen die Verbundenheit zu meinem Volk verspüren, die ansonsten, auf Grund unserer dezimierten Zahl an Juden hier in Deutschland, so schwer zu erfahren ist, und ich merke, dass mich diese Institution der Synagoge doch betrifft. Vielleicht brauchen wir doch die unmittelbare Sichtbarkeit der Gemeinschaft, um stark zu bleiben und um unsere jüdische Identität in Relation zu unserer Minorität in der nationalen Gesellschaft zu festigen; zumindest in der Diaspora.
Das erste Mal fühle ich mich wirklich persönlich eingeschränkt von dieser Krankheit, nicht von den Menschen, welche Bestimmungen zu unserem Schutz aufsetzen, sondern diesem fast unsichtbaren Feind, der sich in unsere Körper einnistet und unser Leben bedroht.
Das erste Mal fühle ich mich allein, als Jude hier in Deutschland.