Zum ersten Mal fühle ich mich als Jude in Deutschland alleine

Corona verändert das Leben eines jeden einzelnen, aber verändert es auch unser Verhältnis, bzw. unser Verhalten in Bezug zu unserem jüdischen Glauben? Wenn ja, wie äußern sich diese Veränderungen. Welche Veränderungen sind es, was sind die Konsequenzen? Sollten wir unser Leben in Bezug auf religiöse Gesichtspunkte unter der Prämisse Corona überdenken und verändern oder haben die Veränderungen schon stattgefunden? 

Fragen über Fragen dieser Art stürmen seit Beginn des Jahres auf mich ein und ja, ich sehe Veränderungen. Ich sehe sie bei mir, aber auch bei anderen. 

Ich gehe zwar regelmäßig und gerne zu den Gottesdiensten in die Synagoge, dachte aber immer, dass ich die Synagoge als Ort nicht zwingend brauche, um meinen Glauben zu leben. 

Als mit der ersten Corona-Welle die Gottesdienste ausgesetzt wurden, führte dies zu erhitzten Diskussionen und Widerstand seitens einiger Gemeindemitglieder. Ich schüttelte den Kopf darüber, dass man dem Vorstand der Gemeinde vorwarf despotisch und diktatorische zu handeln, und dass man sich in seiner persönlichen Freiheit eingeschränkt sah. Ich fand mich damit ab, dass in diesen ungewöhnlichen Zeiten keine Gottesdienste mehr stattfanden und konnte gut damit leben. So verbrachte ich die Shabbatot mit den Kiddushim zu Hause oder bei Freunden und fühlte mich in meinem jüdischen Leben nicht eingeschränkt. 

Die persönliche Erkenntnis, dass ich ebenfalls die Synagoge als Ort des Gebetes und der Gemeinschaft brauchte, ereilte mich vor den hohen Feiertagen. Aufgrund der begrenzt zugelassenen Anzahl der Gottesdienstbesucher, konnte ich mich nicht mehr anmelden und so sah es aus, als würde ich Jom Kippur alleine zu Hause verbringen. Dieser Gedanke schnürte mir die Kehle zu. Noch nie zuvor hatte ich Jom Kippur oder Rosh HaShana zu Hause verbracht. Warum waren mir genau diese Tage so wichtig? 

Wir als Juden gehören in Deutschland zu einer Minorität und oftmals kommt es vor, dass bei einem Gottesdienst noch nicht einmal ein Minjan besteht. An diesen hohen Feiertagen jedoch, ist die Synagoge voll und es ist schön zu sehen, dass es doch noch mehr als 20 Juden in meiner Stadt gibt. Diese volle Synagoge lässt einen weniger verletzlich erscheinen, weil man sich in diesem Moment nicht mehr so alleine fühlt. Ich fühlte mich das erste Mal in Deutschland als Jude alleine. 

Ja, ich kann alleine zu Hause beten, aber es ist nicht dasselbe. Ich möchte genau in diesen Tagen die Verbundenheit zu meinem Volk verspüren, die ansonsten, auf Grund unserer dezimierten Zahl an Juden hier in Deutschland, oft so schwer zu erfahren ist, und ich merke, dass mich diese Institution der Synagoge doch betrifft. Vielleicht brauchen wir doch die unmittelbare Sichtbarkeit der Gemeinschaft, um stark zu bleiben und um unsere jüdische Identität in Relation zu unserer Minorität in der nationalen Gesellschaft zu festigen; zumindest in der Diaspora. 

Nun kommt es zu einem weiteren lock down und wieder wird die Synagoge geschlossen. 

Gestern Abend rief mich meine 16jährige Tochter an, welche für ein Jahr in England lebt, da sie an einem Schulaustausch teilnimmt. Die jüdische Gemeinde dieser englischen Stadt ist auf Grund von Corona geschlossen und somit hat sie keinen Kontakt zu anderen Juden in ihrer Nähe. 

Sie klang traurig. Sie habe alleine in ihrem Zimmer die Shabbatkerzen entzündet, alleine gebetet und alleine gesungen. „Das ist nicht schön, ich fühle mich so einsam“, sagte sie mit bedrückter Stimme. 

Da es in einer orthodoxen Gemeinde halachisch keine Möglichkeit gibt, andere Wege zu finden, um gemeinsam zu beten, als in physischer Anwesenheit jedes Einzelnen, fragte ich mich, wie man es realisieren kann, dass Gemeindemitglieder dennoch gemeinsam beten können. 

Dann hatte ich eine Idee. Vor drei Jahren besuchten wir in New York den Gottesdienst des Temple Emanu-El, welcher uns sehr gut gefiel. In einem anschließenden Gespräch mit der Rabbinerin erfuhren wir, dass wir jederzeit auch in Deutschland an ihren Gottesdiensten teilnehmen können, da alle Gottesdienste auf der Homepage der Gemeinde in einem Livestream zu sehen und zu hören sind. 

Ich schickte meiner Tochter den Link der Synagoge und um 23:00 britischer Zeit, Mitternacht in Deutschland, loggten wir uns ein. Wir beide waren miteinander über Face Time verbunden und erlebten einen wunderschönen, feierlichen und bewegenden Gottesdienst. 

Zu Beginn sprach Jonathan Slaff, ein Mitglied dieser Gemeinde und Vorsitzender des Reader-Panels von Temple Emanu-El und nahm Bezug auf die angebotenen Online-Gottesdienste der Synagoge. 

„Wir sind eine Gemeinde vereint in Glauben, Hoffnung und Liebe. Außerdem wird unser Gottesdienst während der Covid 19 Pandemie weiterhin aus Sicherheits- und Gesundheitsgründen online stattfinden, […] wir sind in diesem Augenblick im Stadium eines herrlichen Experiments und in einem historischen Moment, wenn wir wissen, dass viele Menschen unserer Gemeinde und in unserer Internetfamilie, diesen täglichen Raum für Kaddish, Gebete und die Reflexion des virtuellen Abendgottesdienste, brauchen und schätzen.“[1]

Ja, wir waren nicht physisch anwesend und saßen in Deutschland und Großbritannien auf einem Sofa im Wohnzimmer, aber dennoch – wir waren dabei und die Lebendigkeit und Liebe der Rabbiner und des Kantors die spürten wir auch physisch. Ich sah, wie sich die Gesichtszüge meiner Tochter veränderten und sie begann zu lächeln. Wir waren beide glücklich an diesem, für uns ungewöhnlichen, Gottesdienst teilgenommen zu haben, auch wenn der Kabbalat Shabbat für uns mit 6 Stunden Verspätung stattgefunden hatte, aber das war in diesem Moment marginal. 

Die Zahl der neuen Coronafälle steigt und ich sehe Gemeindemitglieder, die entweder Angst haben mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren, aber zugleich zu Hause vereinsamen weil sie alleine leben oder von ihrer Familie getrennt sind. Wir leben in einem großen Umkreis um die Gemeinde und die wenigsten, wohnen Laufnähe zur Synagoge, da Wohnungen in der Stadt nicht für jeden bezahlbar sind. Somit sind wir auf öffentliche Verkehrsmittel oder Autos angewiesen. Nun habe ich in der letzten Zeit immer öfter die Erfahrung gemacht, dass Gemeindemitglieder, die normalerweise streng religiös leben, auf einmal mit dem Auto zu den Gottesdiensten kommen und ich habe das Gefühl, dass sie sich dabei nicht wohlfühlen da sie, nach ihrem religiösen Verständnis, die Regeln des Shabbat brechen und mit Schuldgefühlen hadern. 

Nun frage ich mich, ob es nicht an der Zeit ist, vielleicht über einen generellen Paradigmenwechsel bezüglich des Shabbat nachzudenken. Man sollte sich fragen, wo die Prioritäten liegen. Ist es wirklich in Ordnung und gewollt, am Shabbat keine elektronischen Geräte oder das Auto zu benutzen und stattdessen zu Hause zu vereinsamen? Ist das Gottes Wille? Ist es besser in tiefe Depressionen zu fallen als die orthodoxen Regeln des Shabbat zu brechen? Wir haben hier in vielen Städten Deutschlands nicht die Option eine Synagoge zu wählen, die unserer Strömung entspricht, es sei denn wir leben in Berlin oder Frankfurt. Unsere Synagogen sind größtenteils orthodox ausgerichtet. Dennoch sehe ich auch, dass manche orthodoxe Gemeinden mittlerweile den Gottesdienst live übertragen, so dass die Gemeindemitglieder am Shabbat gemeinsam mit dem Kantor und dem Rabbiner beten können und ich finde das gut, denn es ist mittlerweile durch Studien belegt, dass auf Grund von Corona die Fallzahlen für neuaufgetretene Depressionen und leider auch Suizide eklatant gestiegen ist.

Wenn wir das Toragebot ‚Pikuach Nefesch‘[2] (פיקוח נפש) betrachten, dann sind wir verpflichtet, Leben zu retten und dies auch am Shabbat und somit den Shabbat halachisch zu entweihen. 

„Und so für jede Lebenserhaltung und selbst für den Zweifel einer Lebenserhaltung ist es eine Pflicht, dafür den Sabbat zu entweihen und dafür alle Verbote der Thora zu übertreten, da keine Sache der Lebenserhaltung gegenüber bestehen bleibt; denn die Thora ist nur um der Lebenden willen gegeben worden, […]“[3]

Nun, ich sehe es als ein Retten von Leben an, zu verhindern, dass Menschen in eine Depression verfallen weil sie vereinsamen, denn das kommt meiner Meinung nach einem inneren seelischen Tod in einem lebenden Körper gleich. 

Noch jetzt, 24 Stunden später, spüre ich den Frieden und den Segen in mir, ebenso wie die Verbindung zu meinem Volk, welche mir durch diesen online Gottesdienst zuteilwurden.

Veränderte Umstände erfordern es manchmal, dass wir unsere Regeln und Gewohnheiten überdenken und eventuell in Hinsicht auf ein größeres Wohl verändern und adaptieren. Wir fahren ja auch nicht mehr mit der Kutsche auf die Arbeit. 


[1] Auszug und Übersetzung der Rede von Jonathan Slaff beim Abendgottesdienst des Temple Emanu-El, New York, am 30.10.2020

[2] Vgl. Lev. 18, 5

[3] Rabbi Schelomo Ganzfried: Kizzur Schulchan Aruch, Kapitel 92, §1, S. 551, Basel 1969

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